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23. Juni 2022 | „Herr, zeige uns Deine Wege“

Christoph Kardinal Schönborn über theologische Grundlagen, Chancen und Risiken von Synodalität | Download Dokument


Autor: Prof. Jan-Heiner Tück
Quelle:
Internationale katholische Zeitschrift COMMUNIO Ausgabe 3/2022 www.communio.de
Ein Gespräch mit Jan-Heiner Tück

Der Wiener Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn kann auf eine reiche synodale Erfahrung zurückblicken. Bereits in den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hat er an Bischofssynoden teilgenommen. Bei der Synode über Ehe und Familie 2014/15 hat er erfolgreich als Vermittler gewirkt. Er ist gewähltes Mitglied des Synodenrates und nimmt in dieser Funktion an der Vorbereitung des Synodalen Prozesses der Weltkirche teil, der im Oktober 2021 auf der Ebene der Diözesen begonnen hat. Im Gespräch mit COMMUNIO entwickelt er Überlegungen zur theologischen Grundlegung von Synodalität und äußert sich erstmals öffentlich zum Synodalen Weg in Deutschland. Dabei wirbt er dafür, Fragen der Kirchenreform von der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals deutlicher zu entkoppeln und erinnert an die diachrone Tiefendimension von Synodalität.

JAN-HEINER TÜCK: Im Moment gibt es den Synodalen Weg in Deutschland und den von Papst Franziskus angestoßenen Synodalen Prozess der Weltkirche. Der Begriff ‹Synodalität› ist in aller Munde, aber nicht alle verstehen ihn gleich. In den Kirchen der Orthodoxie wird er anders verstanden als in den Reformationskirchen. Wie würden Sie zunächst ganz grundsätzlich ‹Synodalität› bestimmen?

CHRISTOPH KARDINAL SCHÖNBORN: Ich möchte den Grundgedanken der Synodalität an zwei Psalmzitaten festmachen. Das eine Zitat stammt aus der Laudes vom Gründonnerstag. Es ist der Psalm 81, da heißt es: «Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört. / Israel hat mich nicht gewollt. // Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen, / und sie handelten nach ihren eigenen Plänen. // Ach, dass doch mein Volk auf mich hörte, / dass Israel gehen wollte auf meinen Wegen! // Wie bald würde ich seine Feinde beugen, / meine Hand gegen seine Bedränger wenden.» (Ps 81,12–14) Und das zweite Zitat stammt aus Psalm 25: «Zeige mir, Herr, deine Wege, / lehre mich deine Pfade.» (Ps 25,4) Ich möchte das, was Synodalität bedeutet, mit diesen beiden Psalmversen illustrieren. «Zeige mir, Herr, deine Wege.» Diese Bitte möchte ich auf die Kirche beziehen. Das Ich, von dem hier die Rede ist, ist das Volk Gottes, das Wir der Kirche. Es bittet den Herrn: «Zeige uns deine Wege, lehre uns deine Pfade.» Darin sind mehrere Elemente, die wesentlich zur Synodalität gehören, zusammengefasst. Zuerst einmal die Anrede an den Herrn. Es ist eine Bitte, die sich an den Herrn wendet. Und um Ihn geht es. Synodalität kann nur den Sinn haben, dass hier ein Weg mit dem Herrn beschritten wird. «Zeige, Herr…»

 

Diese ex-zentrische Ausrichtung auf den Herrn scheint mir wichtig, sie hilft selbstreferentielle Reformdiskurse aufzubrechen. Kirche lebt ja von Christus her auf diesen hin, er ist Mitte und Orientierung…

SCHÖNBORN: Ja – und in der Hinwendung zum Herrn steckt noch ein weiteres Element: Wir wissen nicht alles. Wir suchen. Wir suchen Wege und bitten den Herrn: Zeige uns, nicht nur mir persönlich, sondern uns als Gemeinschaft deine Wege. Es geht nicht um unsere Wege, sondern um seine Wege. Auch ist interessant, dass hier ein Plural steht: «Wege». Es ist nicht ein Weg, der hier für alle auf gleiche Weise verordnet wird, sondern es sind «deine Wege». Synodalität ist also zuerst und vor allem eine Bitte an den Herrn um seine Wege. Das schließt andere Wege aus, es geht um Prozesse der Unterscheidung. In der Bibel heißt es einmal: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege.» (Jes 55,8) Man muss also unterscheiden: Was sind seine Gedanken, was sind seine Wege? Zu Petrus sagt Jesus, als dieser ihn vom Weg des Leidens abhalten will: «Du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen» (Mt 16,21). Es ist also ganz entscheidend, Synodalität als einen geistlichen Weg des Suchens, des Betens und Bittens, ja als Prozess des Unterscheidens zu verstehen. Und das gemeinsam. Synodos ist ein gemeinsamer Weg. Und das heißt, es ist zugleich ein geistlicher und ein handlungsorientierter Weg. Denn es geht ja darum, dass wir diese Wege gehen. Wir bitten ihn, sie uns zu zeigen, damit wir sie auch gehen können und damit die Wege, die wir gehen, nicht Irrwege oder Sackgassen sind, nicht unsere Wege, sondern seine Wege. «Ach, dass doch mein Volk auf mich hörte, wie würde ich es führen», wie Psalm 81 sagt. Das wäre für mich eine biblische Grundlegung dessen, worum es in Synodalität geht.

 

Über biblische Zugänge hinaus hat ‹Synodalität› durch das II. Vatikanische Konzil im Leben der Kirche wieder neue Bedeutung gewonnen. Papst Paul VI. hat 1965 die Bischofssynode als Beratungsgremium eingeführt. Und Papst Franziskus hat in Evangelii Gaudium betont, synodale Elemente auch im Sinne einer «heilsamen Dezentralisierung» stärken zu wollen.[1] Unter den ekklesiologischen Leitbegriffen des Konzils betont er vor allem die Rede von Kirche als wanderndem Gottesvolk. Das Konzil spricht auch von Kirche als Sakrament des Heils, von Leib Christi und communio, die im trinitarischen Wesen Gottes selbst gründet. Wie würden Sie von dort her die Bedeutung des synodalen Elements für die Kirche heute näher skizzieren?

 SCHÖNBORN: Ich möchte die Verwurzelung der Synodalität von zwei Seiten her theologisch vertiefen. Neben der trinitarischen Verwurzelung sehe ich, davon abhängig, eine schöpfungstheologische. Die Kirche ist ja die plebs a trinitate unita, das Volk, das vom dreieinen Gott her geeint ist.[2] Die Kirche ist verwurzelt in dem «Syn» des lebendigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und dieses «Syn» von Vater und Sohn mit dem Heiligen Geist ist grundlegend für unser Gottes- und unser Menschenbild und damit auch für unser Kirchenverständnis. Das Spannende für mich ist, dass diese trinitarische Verwurzelung einen doppelten Aspekt hat, der dann für synodale Prozesse auch ganz praktisch relevant wird. Der erste ist die Homousie, also die Wesensgleichheit der drei göttlichen Personen, der eine Gott ist Gemeinschaft in drei Personen. Zugleich ist als zweiter Aspekt, wie die griechischen Väter sagen, die Taxis zu nennen. Das heißt, es gibt eine heilige Ursprungsordnung, eine Hierarchie. Der Sohn ist nicht der Vater. Der Sohn ist gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater. Aber es gibt diese Taxis, diese heilige Ursprungsordnung, so dass die Synoden von Toledo vom Vater als fons et origo totius divinitatis sprechen, er ist also «Quelle und Ursprung der ganzen Gottheit» (vgl. DH 490 und 525). Der Sohn ist wesensgleich mit dem Vater, aber er ist nicht der Vater, und der Heilige Geist ist gewissermaßen das «Syn», die Gemeinschaft von Vater und Sohn in Person. Das bedeutet, dass Synodalität und Hierarchie keine Gegensätze sind. Natürlich ist der Überstieg von der innergöttlichen Taxis, der Ordnung in der Wesensgleichheit, in die menschliche Ausprägung der Synodalität nicht von vornherein selbstverständlich. Man muss hier bei aller Ähnlichkeit die größere Unähnlichkeit der Analogie mitbedenken (vgl. DH 806), aber dieses «Syn» der heiligen Ordnung, der Taxis des innergöttlichen Lebens spiegelt sich doch in den Werken Gottes. Ich glaube, es wäre ein wichtiges Thema, diesen trinitarischen Ursprung der Synodalität ausgiebiger zu reflektieren.

 

Eine solche Reflexion müsste die beiden Momente der Gleichwesentlichkeit und der heiligen Ordnung im vorgeschlagenen Sinne wohl so auf Synodalität beziehen, dass das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen die Basis der kirchlichen Gemeinschaft wäre, die hierarchische Ausdifferenzierung in verschiedene Dienste und Ämter hingegen die Ordnung der Kirche. Dies neu plausibel zu machen, wäre in der Tat wichtig, denn die ekklesiologische Rede von der communio hierarchica steht ja in Verdacht, machtförmige Verzerrungen der Kommunikation zu begünstigen… Aber Sie hatten noch eine schöpfungstheologische Verwurzelung von Synodalität angekündigt.

 SCHÖNBORN: Es scheint mir interessant, hier der neueren Evolutionsforschung ein wenig nachzuspüren. Ich bin da gewiss kein Fachmann, aber ich habe hier prominente Stimmen gehört, die ganz klar sagen, dass das «Syn» in der Evolution stärker ist als das Gegeneinander. Ich nenne zunächst Adolf Portmann, den großen Basler Biologen, der immer deutlich betont hat: Ja, es gibt die Konkurrenz in der Natur, es gibt das survival of the fittest. Aber der eigentliche Motor der Entwicklung des Lebens ist das Miteinander, die Komplementarität, die Synergie, das Gemeinsam-stark-Sein. Ein weiterer Autor, den ich auch persönlich kenne, ist Martin Nowak, Evolutionsforscher in Yale, der ein Buch mit dem Titel Kooperative Intelligenz geschrieben hat.[3] Der Titel zeigt bereits die Grundidee an. Nowak weist durch viele Beispiele und Forschungsergebnisse auf, dass das eigentliche Modell des evolutiven Fortschritts die Kooperation ist, das Syn-energetische. Wenn das «Syn» sich aber schon in der Entwicklungsgeschichte der Natur abzeichnet, spiegelt es wider, was im Schöpfer selber, im dreifaltigen Gott, letztlich grundgelegt ist. Wenn Jesus sagt – «Der Vater wirkt immer und ich wirke auch» (Joh 5,17) –, dann ist das Ausprägung dieser Synergie bis hinein in die einfachsten Formen der Natur.

 

Können Sie das, was Nowak «kooperative Intelligenz» nennt, konkret an gesellschaftlichen und kirchlichen Vorgängen festmachen?

 SCHÖNBORN: Für die Gesellschaft möchte ich als Beispiel aus der österreichischen Geschichte die Sozialpartnerschaft anführen. Österreich ist nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich wieder stark geworden, auch mit dem hohen sozialen Standard, weil das Grundmodell die Sozialpartnerschaft war, das heißt, die, die sozusagen naturgemäß sich gegenüber- und entgegenstehen, nämlich die Unternehmer und die Arbeitnehmer, haben einen Weg gefunden aus den schmerzlichen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, des Bürgerkriegs und der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs, indem sie nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben: Wir müssen einen anderen Weg gehen, den Weg der Sozialpartnerschaft. Dieser hat bewirkt, dass es in Österreich in den 75 Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg praktisch kaum Streiks gegeben hat und dass jeweils ein gemeinsamer Weg gefunden worden ist, die sozialen Spannungen so lange miteinander auszudiskutieren, bis man zu einer größtmöglichen Einmütigkeit gekommen ist. Und das scheint mir auch für das kirchliche Verständnis von Synodalität bedeutsam. Synodalität als Erfolgsmodell der Schöpfung, der Gesellschaft und letztlich als in Gott selbst verwurzelt, das zielt auf Einmütigkeit, auf unaminitas. Wenn Papst Franziskus immer wieder sagt, Synodalität ist nicht ein Kirchenparlament, wo es primär um das Bilden von Mehrheiten, die Auseinandersetzung von Parteien geht[4], dann hat das seine tiefen Gründe. Es geht um eine größtmögliche Einmütigkeit.

 

Die Kritik an der Verwechselung von Synodalität und Parlamentarismus gibt Anlass, nach diesen Grundlegungsreflexionen auf den Synodalen Weg in Deutschland zu blicken. Manche Akteure würden wahrscheinlich sagen, diese Grundlegungen sind schön und gut, aber sie neigen dazu, die harten Konflikte theologisch zu überhöhen oder spirituell zu immunisieren. Im Zentrum steht ja ein doppelter Skandal: einerseits die Tatsache, dass Kleriker sexuellen und geistlichen Missbrauch begangen haben, andererseits die systemische Vertuschung dieser Delikte durch die Kirchenleitung. Das ist der Ausgangspunkt des Synodalen Weges in Deutschland, der ja durchaus im Sinne der «kooperativen Intelligenz» nach Lösungen sucht. Wie würden Sie diesen Ansatzpunkt beurteilen? Nimmt er die ex-zentrische Ausrichtung, die Suche nach Wegen des Herrn im Sinne einer Erneuerung von Kirche, hinreichend auf?

 SCHÖNBORN: Das Suchen nach den biblischen, theologischen, aber auch gesellschaftsorientierten Grundlegungen der Synodalität, das ist kein Werk der Übergebühr. Grundlegungsfragen sind entscheidend dafür, dass ein synodaler Vorgang gelingen kann. Und da denke ich, dass zuerst einmal ekklesiologische Vorfragen zu klären sind. Für Papst Franziskus ist das Thema Synodalität sehr stark verbun- den mit dem Thema Communio und mit dem Thema sensus fidelium, dem Glaubenssinn des Volkes Gottes. Das sind Themen, die vom Zweiten Vatikanum sehr eindrucksvoll ausgearbeitet worden sind. Und deshalb kann man über Synodalität nur sinnvoll reden, wenn man auf diese theologischen Grundlegungen schaut. Das hat die Internationale Theologenkommission in dem Dokument über Synodalität im Leben und in der Sendung der Kirche eindrücklich getan.[5] Es hat keinen Sinn, über die deutsche oder auch die internationale Diskussion zu reden, ohne diese Grundlegungen zu erörtern. Die Kirchenkonstitution Lumen gentium ist nun einmal die Magna Charta für den Weg der Kirche in novo millennio, im neuen Jahrtausend. Da geht es zuerst einmal um das Mysterium der Kirche. Und ich muss hier klar sagen, ein nur pragmatisch orientierter oder soziologisch vorgehender Versuch, synodal Probleme aufzuarbeiten, wird fehlgehen, schlicht und einfach. Die Orientierung am Zweiten Vatikanum rückt die Frage nach der Grundgestalt der Kirche ins Zentrum, und das ist die Kirche als Sakrament des Heils, die Zeichen und Werkzeug – signum et instrumentum – für die Vereinigung mit Gott und der Menschen untereinander ist (LG 1). Das Volk Gottes mit der gleichen Würde aller Getauften schließt daran an (LG Kap. 2), verbunden mit der gemeinsamen Berufung aller zur Heiligkeit – ein Thema, das in der Konzilsrezeption der letzten Jahre etwas vernachlässigt wurde (vgl. LG Kap. 5). Und für mich ganz wichtig ist immer auch das Kapitel 8 von Lumen gentium, die eschatologische Ausrichtung des Volkes Gottes…

 

Die Erinnerung an die eschatologische Vorläufigkeit der Kirche böte ja auch Reformpotentiale…

 SCHÖNBORN: Gewiss, aber wer sagt, die Behandlung solcher Grundfragen, das sei theologische Vernebelung oder spirituelle Immunisierung von konkreten Problemen, dem muss ich ganz entschieden entgegenhalten: Diese theologischen Grundlegungen auszulassen, hieße auch am realen Menschen vorbeizugehen, an den realen Dramen und inklusive auch am Missbrauchsthema. Es geht um eine Kirche, die, wie Lumen Gentium Art. 8 sagt, aus göttlichen und menschlichen Elementen coalescit, d.h. zusammengewachsen ist. Und es geht um eine Kirche, die aus Sündern gemacht und zusammengerufen ist, aber doch zugleich die eine, heilige Kirche ist. Wer sich dieser Mühe der Glaubensreflexion entschlägt, wird nur verkürzte Resultate haben. Ich werde nie die Vorlesung eines orthodoxen Mönches in meiner Studentenzeit in Frankreich vergessen, der seinen Vortrag begonnen hat mit den Worten: «Ich spreche zu Ihnen über das Mysterium, das heißt über die Wirklichkeit.» Wenn in der dritten synodalen Versammlung in Deutschland abgestimmt wurde über die Frage, ob darüber diskutiert werden soll, ob es einer Zukunft des geweihten Amtes überhaupt bedarf, und dieser Antrag mit 95 Ja-Stimmen und 94 Neinstimmen beantwortet wurde[6], dann ist hier etwas falsch gelaufen. Schlicht und einfach. Denn über eine solche Frage kann man nicht synodal verhandeln. Hier hätte das Präsidium einschreiten müssen. Das ist nicht ein verhandelbares Thema. Es gibt Vorgaben, die zutiefst in der Bibel und der Tradition der Kirche verwurzelt sind. Man stelle sich Diskussionen im Judentum unter Absehung von der Tora vor. Und man stelle sich einen synodalen Weg unter Absehung vom depositum fidei vor. Das ist nicht mehr Synodalität, das ist ein anderer Weg, aber sicher nicht Synodalität im Sinne der Kirche.

 

Nun ist es ja im deutschen Diskussionszusammenhang so, dass die Bündelung der Macht im Bischofsamt und die mangelnde Transparenz und Kontrolle der Machtausübung als Problem gesehen werden. Und hier scheint mir noch eine andere Dimension der Kirche angefragt zu sein, nämlich die bischöfliche Verfassung, die im dritten Kapitel von Lumen Gentium entfaltet wird. Die gewaltenmonistische Konzentration im Bischofsamt, soll nun durch Gewaltenteilung und Laien-Partizipation entflochten werden. Konkret soll dem Bischof als Vorsteher der Ortskirche ein Synodaler Rat an die Seite gestellt werden, der nicht nur berät, sondern mitentscheidet. Da man sich bewusst ist, hier vom Konzil und auch vom Kirchenrecht abzuweichen, hat man die Denkfigur der «freiwilligen Selbstbindung» eingeführt. Die Bischöfe sollen sich selbst an die Mehrheitsvoten von Synodalen Räten binden. Das ist ein Vorgang von einiger Tragweite. Wie beurteilen Sie den?

 SCHÖNBORN: Da möchte ich doch auf den bestimmenden Ausgangspunkt dieser Krise zurückkommen. Das ist das Missbrauchsthema. Was mich hier doch etwas befremdet, ist, dass man so schnell vom Missbrauchsthema zu Kirchenverfassungsfragen übergeht, denn die Evidenz dieses Konnex‘ ist bei Weitem nicht reflektiert und erwiesen. Ist das wirklich ein direkter Konnex, dass Missbrauch in der Kirche geschehen ist, weil es keine Gewaltenteilung im Sinne demokratischer Rechtsstaaten gibt? Ich bezweifle das. In Österreich haben wir sehr viel früher beginnen müssen, uns mit dem Missbrauchsthema auseinanderzusetzen. Zum ersten Mal, als massiv und intensiv die Missbrauchsvorwürfe gegen meinen Vorgänger Kardinal Hans Hermann Groer aufkamen. Das war im Jahr 1995, ein echter Skandal. Kardinal Groer musste zurücktreten, da sich die Vorwürfe bestätigt haben, ich wurde Koadjutor und dann sein Nachfolger. Und schon im Jahre 1996 – das ist maßgeblich auch das Verdienst meines damaligen Generalvikars Helmut Schüller – haben wir die erste Ombudsstelle im deutschen Sprachraum gebildet. Diese Stelle ist kirchenunabhängig besetzt, aber von der Kirche finanziert. Sie hat Betroffenen die Möglichkeit gegeben, sich zu melden – und nicht direkt von der Kirche, sondern von kompetenten, unabhängigen Personen wurden ihre Vorwürfe gegen Priester oder Mitarbeiter der Kirche geprüft. Diese unabhängigen Ombudsstellen wurden dann in allen Diözesen gebildet und sind inzwischen Standard. Der zweite Schritt war, dass ich im Jahr 2010 der österreichischen Bundesregierung vorgeschlagen habe, eine unabhängige staatliche Kommission zu bilden, und dass sich die Kirche dieser Kommission unterstellt. Die damalige Bundesregierung hat das damals leider nicht aufgegriffen. Heute habe ich die Vermutung, dass die Ablehnung geschah, weil sie wahrscheinlich dann alles hätten untersuchen müssen, nicht nur die Kirche, sondern auch die staatlichen Einrichtungen, die Sportvereine und Bildungsinstitutionen etc. Daraufhin haben wir versucht, eine unabhängige Expertenkommission zu bilden. Ich habe damals die emeritierte Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, eine sehr anerkannte Persönlichkeit in Österreich, gefragt, ob sie bereit wäre, eine solche Kommission zu bilden. Sie war dazu bereit und so entstand die unabhängige Opferschutzanwaltschaft, die bis heute funktioniert und die seit 2010 die kirchenunabhängige Anlaufstelle ist für alle Personen, die Missbrauchsvorwürfe vorbringen. Diese Opferschutzanwaltschaft wurde unabhängig von der Kirche konstituiert. Sie besteht aus prominenten Personen aus dem Bereich der Psychiatrie, der Psychotherapie, dem Recht etc. Und damit ist etwas möglich geworden, was doch sehr eindrucksvoll ist. Nach und nach haben alle Bundesländer in Österreich und auch andere Institutionen wie Sporteinrichtungen etc. solche unabhängigen Kommissionen nach dem Modell der kirchlichen unabhängigen Opferschutzanwaltschaft gebildet und haben so versucht, den Missbrauch aufzuarbeiten und einzudämmen...

 

Sodass hier auch eine «Entklerikalisierung» (Paul M. Zulehner) des Missbrauchsthemas stattgefunden hat…

 SCHÖNBORN: In der Tat. Und wir haben dann einen Fonds gegründet, die Stiftung Opferschutz, in den die Diözesen und die Orden eingezahlt haben. Alle Entscheidungen, die die unabhängige Opferschutzanwaltschaft über Wiedergutmachungszahlungen und Therapien getroffen hat, wurden eins zu eins von den Diözesen und den Orden übernommen und beglichen. Dieser Weg war eindeutig opferorientiert. Natürlich steht nach wie vor die Frage im Raum, ob dieser oder jener Bischof, diese oder jene kirchliche Institution, Orden etc. vertuscht haben oder nicht. Aber eines war für uns klar: An erster Stelle muss es um die Betroffenen gehen. Und ich glaube sagen zu können, dass auf diesem Weg das Thema Missbrauch dorthin gekommen ist, wo es zuerst und vor allem hingehört: das Hören und das Achten auf die Betroffenen. Die Frage der Unterlassungen, Versäumnisse und Vertuschungen ist natürlich da und sie wird auch aufgearbeitet, aber sie steht nicht an erster Stelle. Und dass es gelungen ist, diesen Weg einzuschlagen, hat mit dazu geführt, dass international Österreich zu den vier Ländern gezählt wird, in denen das Missbrauchsthema frühzeitig und eindeutig opferorientiert angegangen worden ist.

 

Das heißt, es gibt in Österreich eine klare Unterscheidung zwischen der Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes mit effizienten Instrumenten auf der einen Seite, die zu einer gewissen gesellschaftlichen Befriedung und medialen Beruhigung dieses belastenden Themas geführt haben, und auf der anderen Seite der Diskussion um kirchliche Reformthe-men. Dazu passt ja, dass 2011 der «Aufruf zum Ungehorsam» der Pfarrerinitiative einen Katalog von Reformforderungen lanciert hat, ohne das Missbrauchsthema auch nur zu erwähnen.[7] In Deutschland ist es allerdings so, dass nach der Veröffentlichung der MHG Studie von 2018 die systemische Vertuschung der Delikte durch die Kirchenleitung zu einem massiven Autoritätsverlust der Bischöfe und Personalverantwortlichen in den Diözesen beigetragen hat. Der Synodale Weg hat daher ebenfalls die Einrichtung einer Ombudsstelle zur Prävention und Aufarbeitung von Machtmissbrauch durch Verantwortliche in der Kirche beschlossen und Verbesserungen der Rechtskultur vorgeschlagen. Die Kritik aber, dass es «männerbündlerische Zirkel» von Klerikern gewesen sind, die hier im Sinne des Institutionsschutzes agiert haben, führt zu weitergehenden Forderungen, dass nun über die Lockerung des Zölibats, über Frauenordination, ja über eine Liberalisierung der Sexualmoral nachzudenken ist. Und das Instrument, mit dem anfänglich stark gearbeitet wurde, war der Begriff «Lehramt der Betroffenen», den man inzwischen fallengelassen hat.

 SCHÖNBORN: Ich empfinde das, vielleicht ist der Ausdruck zu stark, als eine Instrumentalisierung des Missbrauchs. Zumindest besteht die Gefahr. Denn hier werden missbräuchliche Verhaltensweisen eingesetzt, um Forderungen der Kirchenreform zu behandeln und versuchsweise zu entscheiden. Dabei ist es doch sehr fraglich, ob damit dem Missbrauchsthema und den Betroffenen wirklich Gerechtigkeit widerfährt. Dass diese Fragen diskutiert werden, ist ein eigenes Thema. Die Reformthemen sind ja seit langem auf der Tagesordnung. Das wissen wir alle. Aber nun die Missbrauchsfrage heranzuziehen, um diese Themen voranzubringen, halte ich für falsch.

 

Das berührt das Verhältnis von Strukturreformen und spiritueller Erneuerung. Ich glaube, alle Akteure sind sich einig, dass beides zusammengehört. Aber die Frage der Gewichtung ist hier natürlich zentral. Interessant ist ja, dass Papst Franziskus sich eigentlich von der Kirche in Deutschland gewünscht hat, den «Primat der Evangelisierung»[8] zu berücksichtigen. Das Präsidium des Synodalen Weges hat aber entschieden, diesem Thema kein weiteres Synodalforum zu widmen. Papst Franziskus hat nun für die Weltkirche einen synodalen Prozess initiiert, der mit den drei Stichworten verknüpft ist: Gemeinschaft, Partizipation und Mission. Sie sind selber Mitglied des Synodalrats, der den Papst bei diesem Prozess berät. Wo, würden Sie sagen, liegen die zentralen Absichten?

 SCHÖNBORN: Für Franziskus ist offensichtlich ganz, ganz wichtig, dass das Prozesse sind. Es sind nicht momentane Versammlungen, die elaborierte Textvorlagen abhandeln und dann abhaken, sondern er möchte Prozesse initiieren. Aber was sind das für Prozesse, die er initiieren will? Er redet viel vom Hören aufeinander, vom Hören auf den Heiligen Geist, er redet aber auch viel von Klerikalismus[9] – ein Punkt, der vielen Priestern ein bisschen wehtut. Könnte er nicht auch ein bisschen mehr sagen über das Positive des priesterlichen Dienstes, statt die negativen Seiten so zu betonen? Bei der Recollectio zur Chrisammesse, also der Begegnung mit den Priestern der Erzdiözese Wien, bin ich auf diese Frage eingegangen und habe dazu eingeladen, ein wenig das Kapitel 22 aus dem Lukas-Evangelium zu meditieren. Hier wird deutlich, was Franziskus mit Klerikalismus meint. Lukas hat mitten in den Bericht über das Abendmahl, die Nacht vor Jesu Gefangennahme, die Nacht vor seinem Leiden, den Rangstreit der Jünger hineingesetzt. Das unterscheidet ihn von den anderen Synoptikern, bei denen der Streit schon auf dem Weg nach Jerusalem stattfindet. Vermutlich sind solche Rangeleien unter den Aposteln öfters vorgekommen. Wer von ihnen ist der größere? Und ich habe den Priestern gesagt: Wir sehen hier, dass Klerikalismus eine Haltung ist, die offensichtlich schon im Apostelkollegium vorhanden war und die in der Kirche immer wieder auftauchen wird. Warum? Weil Leitung auch missbraucht werden kann. Aber der Missbrauch der Leitung ist kein Argument gegen Leitung. Die Tatsache, dass Priester und Bischöfe vertuscht haben, ist kein Argument gegen die bischöfliche Verfasstheit der Kirche. Das wird auch nicht dadurch verbessert, dass man in einer Art Konziliarismus den Bischöfen nun Laien-Räte an die Seite stellt, sondern geheilt wird das Problem durch das, was Jesus in dieser Nacht seinen Jüngern gesagt hat: Ich bin unter euch als der, der dient. Nach diesem Rangstreit der Jünger, der wirklich höchst peinlich ist, wie das Gehabe von Klerikern eben auch höchst peinlich sein kann, sagt Jesus ihnen: «Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende.» (Lk 22,26) Und dann sagt er: «Ihr habt in all meinen Bedrängnissen bei mir ausgeharrt. Deshalb vermache ich euch das Reich, wie der Vater es mir vermacht hat.» (Lk 22, 28f) Das heißt, Jesus trennt nicht die Vollmacht von der Gefahr des Missbrauchs. Das wäre ein Remedium gegen den Missbrauch der Macht. Das Heilmittel gegen den Klerikalismus ist, pardon, es so schlicht und deutlich zu sagen, die Nachfolge Jesu! Von Umkehr und Nachfolge ist auf den Debatten des Synodalen Weges zu wenig zu hören. Das Maß, der Maßstab, den das kirchliche Amt zu nehmen hat, ist aber seit seinem apostolischen von Jesus eingesetzten Ursprung die dienende Gestalt Jesu. Darum heißt es ja ministerium – Dienst. Der Missbrauch, der durch Priester geschehen ist, ist sicher die schlimmste Form von Missbrauch. Aber das als Argument dafür zu nehmen, dass die Stiftung Jesu geändert oder korrigiert werden muss, scheint mir verfehlt. Die Vollmacht (exousia) hat Jesus den Aposteln und ihren Nachfolgern gegeben. Und das Maß, wie diese Vollmacht anzuwenden ist, wird nicht durch ein Kontrollgremium vorgegeben, dem die Bischöfe sich in freiwilliger Selbstbeschränkung unterwerfen, oder durch eine wie auch immer gefasste demokratische Korrektur, sondern durch das Wort des Herrn und die Stimme aus dem Volk Gottes, die die Hirten daran erinnert, was es heißt, Hirte zu sein.

 

Papst Franziskus hat ja das eindrückliche Bild der umgekehrten Pyramide geprägt, um den Hirten zu sagen, dass sie ihr Ohr bei der Herde haben sollen.[10] Der Bischof ist zunächst Getaufter unter Getauften und soll wahrnehmen, was die Gläubigen umtreibt. Für den Synodalen Prozess der Weltkirche bedeutet das: Zunächst sollen auf der Ebene der Ortskirchen alle konsultiert werden. Quod omnes tangit, ab omnibus tractari debet. In einer zweiten Stufe geht es dann darum, dass die Bischöfe einer Region gemeinsam beraten. Und am Ende entscheidet die Weltbischofssynode gemeinsam mit dem Nachfolger Petri, der das Amt der Einheit innehat. Auf dem Synodalen Weg in Deutschland wird demgegenüber darauf Wert gelegt, dass die Laien nicht nur konsultiert werden und mitberaten, sondern auch mitentscheiden. Mehr Laien-Partizipation und Gewaltenteilung in der Kirche erscheinen als Antwort auf das Problem der Vertuschung…

 SCHÖNBORN: Eine erste Bemerkung dazu. Gewaltenteilung setzt voraus, dass es eine echte Leitungsgewalt gibt. Die Regierung hat nun einmal die politische Richtlinien- und Entscheidungskompetenz, freilich ist sie rückgebunden an die Verfassung. Der Bischof ist auch rückgebunden an die Verfassung der Kirche, das heißt der Bischof ist nicht frei zu lehren, was er will, und er ist auch nicht frei zu entscheiden, was er will. Er hat ganz klare Vorgaben, das sind die des Kirchenrechts – und noch viel tiefer gründen die Vorgaben, die wir von Jesus Christus haben. Der Bischof ist nicht ein freier Souverän, er ist nicht ein Despot. Und wenn er sich despotisch benimmt, gibt es die entsprechenden Kontrollmechanismen. Es gibt die Möglichkeit, Rekurs gegen einen Bischof einzulegen. Es gibt kirchenrechtliche Bestimmungen, welche die Vollmacht des Bischofs etwa in wirtschaftlichen Sachen sehr klar limitieren. Und wenn man die wirtschaftlichen Skandale in der Kirche ansieht, dann war die Ursache dafür fast immer, dass man die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen nicht eingehalten hat.

 

Ist ein Bischof überhaupt befugt, die ihm in der Weihe übertragene Leitungsvoll-macht im Sinne der «freiwilligen Selbstbindung» an Laien-Gremien abzugeben? Ein Beamter, der seine Kompetenz eigenmächtig an andere delegieren würde, hätte wahrscheinlich mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Kardinal Kasper hat die deutschen Bischöfe vor einer «kollektiven Selbstabdankung» gewarnt…

 SCHÖNBORN: Ich erinnere mich an Diskussionen über das Bischofsamt, in denen die Ansicht vertreten wurde, der Bischof sei eine Art Spiritual der Diözese. Er predige, gebe geistliche Impulse, spirituelle Orientierung für seine Diözese, aber die effektive Leitung solle den kompetenten Personen und Gremien anvertraut werden. Doch stellt sich hier sehr schnell die Frage: Woher nehmen diese Gremien oder kompetenten Personen ihre Legitimation? Seit den frühesten Anfängen der Kirche ist das apostolische Amt das von Christus gestiftete Leitungsamt. Und von ihm her bekommt es auch den modus operandi zugewiesen. Welche Legitimation hat etwa das Zentralkomitee der deutschen Katholiken? Repräsentiert es überzeugend das Volk Gottes?

 

Die Frage der theologischen Legitimität des Synodalen Weges könnte im Sinne der «freiwilligen Selbstbindung» beantwortet werden. Wenn die Bischöfe sagen, wir geben dem Synodalen Rat die Bestimmungsmacht, dann können die Mitglieder die Lücke der episkopalen Selbstrücknahme füllen. Aber die Frage, wer aufgrund welcher Qualifikation durch welche Kriterien Mitglied des Synodalen Rates wird und wer nicht, bleibt natürlich. Übrigens ist angedacht, dass auf Diözesanebene der Bischof mit einer zweiten Person zusammen den Synodalen Rat leitet. Wenn der Bischof den Mehrheitsentscheidungen des Rates nicht folgen will, hat er ein Vetorecht. Aber dann wird eine Schiedsinstanz einberufen, die zwischen dem Bischof und dem Synodalen Rat entscheiden soll. Und hier stellt sich dieselbe Frage wieder: wer gibt eigentlich einer solchen Schiedsinstanz die Legitimation?

SCHÖNBORN: Ich möchte hier noch einen Gedanken anfügen, den auch das Papier der Internationalen Theologenkommission zu Recht hervorhebt. Es gibt nicht nur die synchrone Synodalität, sondern auch die diachrone Synodalität. Die Kirche ist ein lebendiger Organismus in der Zeit, und sie ist himmlische Kirche und irdische Kirche. Sie ist die Kirche derer, die vor uns geglaubt haben, und derer, die nach uns glauben werden. Und wir sind nicht einfach frei befugt, so zu tun, als gäbe es nicht die Glaubensgeschichte der Kirche, die Geschichte der Heiligkeit und natürlich auch der Sündhaftigkeit der Glieder der Kirche in der diachronen Betrachtung. Die immer wieder formulierte und medial geschürte Behauptung, wenn die Kirche jetzt sich nicht modernisiert, jetzt sich nicht öffnet, dann wird sie zugrunde gehen, produziert eine ungute Untergangsstimmung. Dem möchte ich schlicht und einfach ein Wort entgegenhalten, das den meisten von uns vertraut ist, weil es im dritten Hochgebet der Messe steht. Dort heißt es in dem einleitenden Gebet an Gottvater gerichtet: «Bis ans Ende der Zeiten versammelst du dir ein Volk.» Irgendwo habe ich den Eindruck, auch beim Lesen dieser theologisch teils sehr ausgeklügelten Papiere, dass ein Grundelement des ganzen Lebens der Kirche einfach nicht thematisiert wird: Der Herr sammelt sein Volk. Wieso bin ich zum Glauben gekommen in einer Familie, in der das Glauben nicht selbstverständlich war? Weil der Herr in meinem Leben gewirkt hat. Und die Menschen, die heute den Weg der Kirche gehen in einer so säkularen Welt, die tun es doch nicht, weil ihnen die Strukturen der Kirche so besonders sympathisch sind oder weil die Kirche so besonders modern ist. Sondern das hat etwas mit Gott zu tun, das hat etwas mit dem Ruf Christi zu tun. Und das berühmte Aggiornamento von Papst Johannes XXIII. wäre völlig missverstanden, wenn man glaubt, die Kirche überlebt nur, wenn sie sich modernisiert. Aber was heißt modernisieren? Was heißt zeitgemäß sein?

 

Der Alarmismus in der Reformdebatte ist in der Tat sehr verbreitet – und man übersieht bei allem Eifer für die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus gerne, dass die Reformationskirchen, welche die Reformagenden übererfüllt haben, nicht weniger erodieren als die katholische, was den Horizont für weitere Krisenparameter öffnet, die mit den Transformationsprozessen heutiger Gesellschaft zu tun haben. Wie aber soll die Katholische Kirche mit diesen Modernitätskonflikten umgehen?

SCHÖNBORN: Ich möchte hier an ein Wort von Karl Rahner erinnern, das mich für mein Leben geprägt hat. Es könnte auch heute hilfreich sein in einer Zeit der Kirche, die sehr im Umbruch ist, in der wir lernen müssen, dass wir in vieler Hinsicht eine Minderheit geworden sind und dass wir hoffentlich, wie Jonathan Sacks, der große Londoner Oberrabbiner, gesagt hat, eine creative minority sind. Aber die Voraussetzung dafür ist eine Haltung der inneren Verfügbarkeit für das, was Gott uns zeigt. Rahner hat damals uns jungen Theologen gesagt: Wenn ihr mit etwas aus der Lehre der Kirche nichts anfangen könnt, sagt bitte nicht von vornherein «So ein Blödsinn oder so etwas Veraltetes!», sondern haltet euch einen inneren Raum frei. Ich gebe es jetzt mit meinen Worten wieder, haltet euch einen inneren Raum frei, dass das, was euch jetzt nicht sinnvoll erscheint, sich als sinnträchtig erschließen könnte.

Ich möchte das konkret auf das Thema Öffnung des Weihesakraments für Frauen hin anwenden, weil hier ja der Modernitätskonflikt der Kirche ganz augenfällig wird. Ich verstehe, dass das ein ganz massives Thema ist. Ich besuche viele Schulen und habe keinen Schulbesuch erlebt, wo das nicht Thema war. Ich habe viele Diskussionen in Pfarrgemeinderäten, immer kommt dieses Thema. Warum dieser Ausschluss der Frauen vom Amt? Auf der anderen Seite steht eine 2000-jährige Tradition. Es stehen klare lehramtliche Äußerungen. Es stehen Äußerungen der Päpste bis hin zu Franziskus, die hier ein klares Wort sprechen. Es steht mir nicht zu, es steht niemandem zu, dem Heiligen Geist vorzugreifen. Aber eines möchte ich doch als Grundhaltung auch für einen synodalen Weg erbitten: Halten wir uns einen inneren Raum offen. Mit dem Gedanken: Vielleicht ist hier ein Sinngehalt, der sich mir jetzt und auch der Mehrheit der Gesellschaft heute nicht erschließt, den aber zu hüten vielleicht die Kirche beauftragt ist, auch in Treue zu einer diachronen Synodalität. Vielleicht liegt hier eine Tiefe symbolischer Theologie, eine Dimension der Geschlechterdifferenz, die wir im Moment nicht wahrzunehmen vermögen, die sich aber vielleicht erschließen wird. Ich weiß, es wird intensiv weiter diskutiert werden – und ich kenne beeindruckende Frauen, die sich zum Priestertum berufen fühlen. Und doch bitte ich darum, diesen inneren Raum freizuhalten.

Zum Schluss möchte ich noch eine kritische Rückfrage stellen: Wie kommt es, dass auf dem Synodalen Weg in Deutschland auf der einen Seite gefordert wird, dass das Weiheamt geöffnet wird, und auf der anderen Seite so viele fordern, dass diskutiert wird, ob ein Weiheamt für die Kirche künftig überhaupt noch notwendig ist? Hier wünsche ich mir mehr Sensibilität im Blick auf die Priesteramtskandidaten, die sich vorbereiten, und die große Mehrheit der Priester, die ihr Leben in den Dienst des Evangeliums gestellt haben – und schließlich etwas mehr Behutsamkeit gegenüber dem, was die, die vor uns geglaubt haben, wahrgenommen haben, wofür wir im Moment vielleicht nicht ganz das Sensorium haben.

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Anmerkungen

[1]       Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, Bonn 2013, Art. 16. Vgl. auch die Aussage: «Im Dialog mit den orthodoxen Brüdern haben wir Katholiken die Möglichkeit, etwas mehr über die Bedeutung der bischöflichen Kollegialität und über ihre Erfahrung der Synodalität zu lernen. Durch einen Austausch der Gaben kann der Geist uns immer mehr zur Wahrheit und zum Guten führen» (Art. 246).

[2]      Vgl. LG 4: «So erscheint die gesamte Kirche als ‹das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk› (mit Verweis auf Cyprian, De Orat. Dom. 23 = PL 4, 553).» Vgl. Bruno Forte, La chiesa della trinità, Cinisello-Balsamo 1995.

[3]       Martin Nowak, Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, München 2013.

[4]      Papst Franziskus, Wagt zu träumen. Mit Zuversicht aus der Krise. Im Gespräch mit Austen Ivereigh, München 2021, 106–122, hier 113: «Eine andere, Menschen oft verwirrende Versuchung war die, die Synode als eine Art von Parlament und getragen von ‹politischer Auseinandersetzung› zu behandeln, in der, um regieren zu können, eine Seite die andere schlagen muss. Einige Leute haben versucht wie es Politiker tun, um Unterstützung für ihre Positionen zu sammeln: durch Warnungen in den Medien oder durch Appelle, Meinungsumfragen durchzuführen. Das geht gegen den Geist der Synode als einen geschützten Ort von Unterscheidung in Gemeinschaft.»

[5]      Vgl. Markus Graulich – Johanna Rahner (Hg.), Synodalität in der Katholischen Kirche. Die Studie der Internationalen Theologischen Kommission im Diskurs (QD 311), Freiburg i. Br. 2020, bes. 318–388.

[6]      Vgl. Benjamin Leven, Brauchen wir das noch?, in: Herder-Korrespondenz 75 (11/2011) 4–5.

[7]        Vgl. Jan-Heiner Tück (Hg.), Risse im Fundament. Der Aufruf der österreichischen Pfarrerinitiative, Freiburg i. Br. 22013.

[8]        Papst Franziskus, Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Art. 7.

[9]      Papst Franziskus, Evangelii Gaudium, Art. 102.

[10]     Papst Franziskus, Ansprache zum 50-Jahr-Jubiläum der Errichtung der Bischofssynode: «Doch in dieser Kirche befindet sich der Gipfel wie bei einer auf den Kopf gestellten Pyramide unterhalb der Basis. Darum werden diejenigen, welche die Autorität ausüben, «ministri – Diener» genannt, denn im ursprünglichen Sinn des Wortes «minister» sind sie die Kleinsten von allen. Im Dienst am Volk Gottes wird jeder Bischof für den ihm anvertrauten Teil der Herde zum vicarius Christi, zum Stell- vertreter jenes Jesus, der sich beim Letzten Abendmahl niedergekniet hat, um den Aposteln die Füße zu waschen (vgl. Joh 13, 1–15).»


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