17. September 2021 | Mit Petrus Canisius zwischen den Zeiten — Erneuerung aus dem Ursprung als Erinnerung an die Zukunft
Autor: Walter Kardinal Kasper
Quelle: Vortragsmanuskript
Der emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper hat sich in einem Vortrag zu grundlegenden Fragen der Krise der Kirche und Wegen der Erneuerung geäußert. Kasper ging dabei explizit auf Reformvorschläge des Synodalen Weges ein. Ausdrücklich stellte er sich hinter den Alternativtext „Vollmacht und Verantwortung“ zu Synodal-Forum I. Der frühere Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen sprach im Rahmen eines Studiennachmittags über Petrus Canisius, den das Akademische Forum der Diözese Augsburg in Kooperation mit dem Verein für Augsburger Bistumsgeschichte veranstaltet hat. Der Vortrag im Wortlaut.
Von Kardinal Walter Kasper, Rom
Die Einladung zu diesem Vortrag war für mich eine willkommene Einladung, mich ausführlich mit Petrus Canisius (1521-1597) zu beschäftigen. Selbstverständlich kannte ich den Kanisi, den Katechismus oder besser: die Katechismen des Petrus Canisius. Doch Begeisterung kam erst auf als ich das spannende Buch von Mathias Moosbrugger las, „Petrus Canisius. Wanderer zwischen den Welten.“[1]
Schnell wurde mir klar, wie aktuell das alles ist. Wanderer zwischen den Welten, das sind auch wir im 21. Jahrhundert. Wir leben nicht nur in einer Zeit rapiden Wandels, vielmehr in einemWandel der Zeit.[2] Wir leben zwischen den Zeiten in einem epochalen Umbruch, der mit dem vor 500 Jahren vergleichbar, von ihm aber auch verschieden ist.
Umbruch bedeutet Zu-Ende-Gehen des Bisherigen und Vertrauten und den Weg in eine noch offene Zukunft. Die Verlusterfahrung erzeugt Trauer und bereitet zugleich Ängste. Sie stellt bange Fragen, wie es weitergehen soll. Als Pfarrer erfahren Sie den Umbruch tagtäglich hautnah, wenn Sie nicht nur eine Gemeinde sondern fünf, sechs und mehr Gemeinden betreuen sollen, wenn die Kirchenbänke am Sonntag leerer werden und wenn sie wahrnehmen, dass Kirche, Priester und Bischöfe einen noch vor zehn oder zwanzig Jahren völlig unvorstellbaren Vertrauens- und Ansehensverlust erfahren haben und uns der Wind nicht nur von außen sondern aus der Mitte der Kirche selbst eiskalt ins Gesicht bläst. Man fragt sich: Kirche, quo vadis?
I. Kirche zwischen Modernismus und Antimodernismus redivivus
Um eine Antwort vorzubereiten, ist es hilfreich, zunächst die gegenwärtige Krise etwas genauer anzusehen. Dazu muss man bis in die Zeit des Petrus Canisius zurückgehen. Damals hat Martin Luther wortgewaltig aber aus innerer Überzeugung eine neue Interpretation des Evangeliums vorgetragen, und den Papst, der ihn exkommunizierte, als Antichrist bezeichnet. Damit brachte er das bislang vertraute Gebäude der Kirche ins Wanken. Die neue reformatorische Gestalt der Kirche breitete sich rasch aus. Als fast alles schon verloren schien, leitete Petrus Canisius in Deutschland eine Erneuerung der Kirche ein, die man lange zu Unrecht als Gegenreformation bezeichnete, und von der die großartige Barockkultur in Bayerisch-Schwaben wie bei uns in Oberschwaben bis heute eindrucksvoll Zeugnis gibt.
Damit stehen wir bereits bei dem grundlegenden Unterschied der Krise damals und heute. Zwischen beiden Krisen stehen die neuzeitliche Aufklärung, die Französische Revolution (1789) und die Revolutionskriege Napoleons, die nicht nur zur Säkularisation der geistlichen Fürstentümer führte, über die wir heute eher froh sind: Es kam auch zu der viel tiefer reichenden Säkularisierung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens.
„Wie soll sich die Kirche in der neuen, sich säkular verstehenden modernen Welt aufstellen? Sie steht vor der Alternative: Widerstand, Anpassung oder Erneuerung von innen aus dem eigenen Ursprung?“
(Walter Kardinal Kasper)
Jetzt ging es nicht mehr um römisch-katholische Kirche versus evangelisch-reformatorische Kirche. Jetzt ging es grundsätzlich zur Sache. Es ging um die Auseinandersetzung mit einer sich autonom und säkular verstehenden Lebenswelt, die ohne Gott auskommen und die Religion auf den privaten Bereich begrenzen wollte.[3] Das ist das Grundproblem auch in der gegenwärtigen Krise. Es geht um die Frage: Wie soll sich die Kirche in der neuen, sich säkular verstehenden modernen Welt aufstellen? Sie steht vor der Alternative: Widerstand, Anpassung oder Erneuerung von innen aus dem eigenen Ursprung?
Schritte auf dem Weg der Erneuerung gab es schon unmittelbar nach der Französischen Revolution. Man denke etwa an den Kreis um den bayerischen Kirchenvater Johann Michael Sailer (1751-1832), an die Katholische Tübinger Schule (Johann Sebastian Drey, Johann Adam Möhler u.a.) und an neue pastorale Ansätze, welche schon damals die deutschen Sprache in der Liturgie und die synodale Verfassung der Kirche anstrebten. Doch die Ansätze wurden durch die einseitig auf innere Geschlossenheit und auf Abgrenzung nach außen bedachte Neuscholastik niedergewalzt.[4] Theologie und Kirche verloren damit den Kontakt zur modernen Lebenswelt, und Theologen, welche den Anschluss an die neue Zeit suchten, wurden als Modernisten verdächtigt. Diese Auseinandersetzung zwischen Modernisten und Antimodernisten führte zu einer der schwersten Krisen der Kirchengeschichte, die bis heute nicht ausgestanden ist.[5]
Mit dem Ersten Weltkrieg (1914-18) war die aufgeklärte bürgerliche Epoche zu Ende. Die Krise der bürgerlichen Kultur mündete in die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts und in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs (1939-45). In den Schloten von Auschwitz ist die europäische Kultur in Rauch aufgegangen. In der Kirche kam man zur Besinnung. Besonders in Frankreich und Deutschland kam es zwischen den beiden Weltkriegen zu einer liturgischen, biblischen, patristischen, katechetischen und pastoralen Erneuerung. Man entdeckte die Reichtümer der Tradition neu und entdeckte deren nicht zu unterschätzende Innovationspotenziale, die Brücken schlagen zur modernen Welt. Glaube und Vernunft sind ja keine Gegensätze; im Gegenteil, sie sind gleichsam „die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“[6]
Johannes XXIII. erkannte die Zeichen der Zeit. Er widersprach allen Unheilspropheten und sah eine neue Morgenröte heraufziehen. Mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils wollte er eine Neubesinnung auf den Glauben, um die Kirche wieder zukunftsfähig zu machen.[7] Das Konzil (1962-65) erstrebte eine solche Erneuerung aus den Ursprung und damit zugleich eine konstruktive Zuwendung zur modernen Welt. Die Antithese zwischen anpasserischem Modernismus und sich einigelndem reinen Antimodernismus sollte überwunden werden. So entwarf das Konzil ein Kirchenverständnis, das trinitarisch und christologisch begründet war und die Kirche als wanderndes Volk Gottes verstand, das offen ist für den Dialog mit den anderen Kirchen, mit dem Judentum und den Religionen, wie mit der modernen Welt. Die Kirche wurde neu verstanden als eine paradoxe, theologisch ausgedrückt eine sakramentale göttlich-menschliche Wirklichkeit, als heilige Kirche und doch Kirche der Sünder zugleich (LG 8).
„So ist der Streit zwischen Modernisten und Antimodernisten in verschärfter und vergifteter Form neu aufgebrochen.“
(Walter Kardinal Kasper)
Damit hat die katholische Kirche einen Erneuerungsprozess hingelegt, wie er im 20. Jahrhundert keiner anderen Kirche gelungen ist. Er zeigte: Die katholische Kirche ist keine starre unbewegliche Größe; sie ist auch nach fast 2000 Jahren jung geblieben. Das hat damals zu einer Aufbruchsstimmung geführt, die mich als junger Priester wie viele andere begeistert und beflügelt hat und die bestimmend geworden ist für mein theologisches Denken und meinen pastoralen und ökumenischen Einsatz. Davon zehren ich und viele meiner Generation bis heute.
Diese Aufbruchsstimmung ist Geschichte. Man kann sie heute jungen Menschen nicht mehr vermitteln. Für alle, die jünger als 60 Jahre alt sind und die das das Konzil nicht mehr bewusst erlebt haben, ist das Konzil ein Geschehen in einer längst vergangenen anderen Zeit. Sie erleben nicht den Aufbruch, sie erleben eine von Krisen geschüttelte Kirche. Der damalige Aufbruch scheint ausgereizt, verbraucht und irgendwie verpufft zu sein. „La Chiesa brucia“- „Die Kirche brennt“ überschrieb Andrea Riccardi, der Gründer von Sant‘Egidio, sein letztes Buch unter Bezugnahme auf den Brand von Notre Dame in Paris, die auch für Nichtgläubige als Symbol französischer und europäischer Geschichte und Kultur gilt.[8] Ist mit der Kirche vielleicht auch Europa am Ende?
Wie konnte es dazu kommen? Wie meist gibt es viele Ursachen. Ganz Europa und der ganze Westen stehen in einer Orientierungskrise; die Kirche lebt nicht neben sondern mitten in dieser krisengeschüttelten Welt; sie nimmt an der allgemeinen Krise teil. Dazu kommen Ursachen innerkirchlicher Art. Das Konzil konnte nicht alles zu Ende führen, hat manches offen gelassen oder, um zu einem Konsens zu kommen, manches kompromisshaft formuliert. Das führte nach dem Konzil zum erbitterten Streit um die rechte Konzilsauslegung.[9] Das römische Lehramt suchte zu Recht, das Konzil in die Kontinuität der Tradition einzuordnen, doch die weiter- und zukunftsweisenden Aspekte traten dabei in den Hintergrund. Dieser Aufbruch, den das Konzil wollte, schien ausgebremst. Die Tradition, die es erneuern wollte erschien mehr als Bollwerk denn als Erinnerung an die Zukunft.[10] Enttäuschung und Unmut machten sich breit.
Mitten in die bereits angespannte Situation platzte der Missbrauchsskandal. Er hat innerkirchliche Probleme und Schwachstellen offen gelegt. Verdrängen oder schönreden hilft nicht. Die Diskussion einfach verbieten, geht heute gleich gar nicht. Es führt kein Weg daran vorbei, die Probleme müssen angepackt werden. Probleme, die man verdrängt, rumoren im Unterbewusstsein weiter und machen krank.
So ist der Streit zwischen Modernisten und Antimodernisten in verschärfter und vergifteter Form neu aufgebrochen. Die einen wollen eine Kirche, welche den Standards der Moderne entspricht: Sie wollen Demokratisierung und mehr Mitspracherechte in der Kirche, kämpfen für die Rechte und Gleichstellung der Frauen, auch für die Ordination von Frauen, für Selbstbestimmung besonders im Bereich der Sexualität, Abschaffung des Zölibats u.a. Andere verharren auf dem Status quo oder wollen gar zurück in einen Status quo ante vor das II. Vatikanum wie die von Erzbischof Marcel Lefebvre gegründete Pius- bruderschaft, die neuerdings Unterstützer auch aus der katholischen Kirche findet.
Öffentlich tonangebend sind die Extreme, was fehlt ist die Stimme einer breiten Mitte, welche die geistige und die geistliche Kraft hat, die berechtigten Anliegen beider Seiten zu vermitteln und die Extreme an die Ränder zu drängen. Es gibt diese Mitte. Sie ist da im Lebenszeugnis und Engagement vieler Christen, welche als Beter die atmende Lunge der Kirche sind. Sie ist da in den unzähligen verfolgten Christen und in den Millionen Christen, die zu den Armen und Ärmsten dieser Welt gehören. Sie haben andere Probleme als wir aufgeklärte Europäer. Doch ihre Stimme dringt bei uns kaum durch. Ihr gilt es mehr Gehör zu geben.
„Am Ende fragen sich viele, ob das alles noch ganz katholisch ist. Manche Aussagen weichen deutlich von Grundanliegen des II. Vatikanums ab, etwa beim sakramentalen Verständnis der Kirche und des Bischofsamtes wie der Zusammengehörigkeit von ordo und iurisdictio.“
(Walter Kardinal Kasper)
Wie kann das geschehen? Zwei Vorlagen beim Synodalen Weg zeigen die Alternative. Die eine, „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“, versucht angesichts der Krise die Kirche mit Hilfe eines gelehrten theologischen Theoriegebäudes gewissermaßen neu zu erfinden. Darin steht viel Richtiges, aber auch viel Hypothetisches. Am Ende fragen sich viele, ob das alles noch ganz katholisch ist. Manche Aussagen weichen deutlich von Grundanliegen des II. Vatikanums ab, etwa beim sakramentalen Verständnis der Kirche und des Bischofsamtes wie der Zusammengehörigkeit von ordo und iurisdictio.
Der Gegenvorschlag „Vollmacht und Verantwortung“ setzt anders an. Er stellt sich klar auf den Boden des Konzils, der uns allen gemeinsam sein sollte. Er anerkennt die offenen Fragen, die das Konzil hinterlassen hat und sucht auf dem sicheren Boden des Konzils den Weg des Konzils weiterzugehen. Dabei kann er zeigen: Man muss gar nicht alles auf den Kopf stellen. Auf dem Boden des Konzils kann man im Geist des Konzils über das Konzil hinausgehen ohne mit der Kirchenlehre in Konflikt zu geraten. Das ist der Weg der lebendigen Tradition, der Weg der Kirche. Er versteht die Tradition nicht als abschreckendes Bollwerk, sondern als Einladung, sich auf den Weg der Kirche zu machen und sich dabei auch von neuen Einsichten überraschen zu lassen.
Ich kann nur hoffen, dass beide Seiten die Größe haben, aufeinander zuzugehen. Denn wenn wir wirklich einen Aufbruch wollen, brauchen wir nach synodaler Tradition am Ende eine einmütige Antwort, die nicht spaltet, sondern zusammenführt. Ausgehend von einer nicht toten, sondern lebendigen Tradition möchte ich darum im Folgenden die gegenwärtige Krise als Herausforderung zu einem gemeinsamen Aufbruch in gemeinsamer Weggemeinschaft verstehen.
II. Die Krise als geistliche Herausforderung
Das griechischen Wort Krise bedeutet nicht Zusammenbruch; eine Krise ist eine sich zuspitzende Situation, in der sich alles zum Guten oder zum Schlechten wenden kann. Eine Krise ist eine Herausforderung, bei der es darauf ankommt, was man aus ihr macht. Sie ist kein Schicksal; sie ist uns zur aktiven Gestaltung aufgegeben.[11]
So hat Petrus Canisius seine Situation verstanden. Er wollte Kartäuser werden und ein klösterlich zurückgezogenes Leben führen, bis er Peter Faber aus dem ursprünglichen Kreis um Ignatius von Loyola begegnete. Bei ihm lernte er eine andere Spiritualität kennen, die sich nicht aus der Welt zurückzieht, die vielmehr missionarisch in die Welt hinausgeht, eine Spiritualität, die Aktion und Kontemplation miteinander verbindet. Die ignatianische Spiritualität kann man in dem Satz zusammenfassen: In actione contemplativus, in contemplatione activus (J. Nadal).[12] Sie ist Aktivität, die aus der Kontemplation erwächst und Kontemplation, welche in der Aktivität fruchtbar wird.
Erfüllt vom Feuer dieser Spiritualität hat Petrus Canisius es geschafft, in einer Situation, in der Augsburg, große Teile Österreichs und Süddeutschlands und selbst Köln auf der Kippe standen, das Rad der Geschichte nochmals herumzureißen. So kann Petrus Canisius uns sagen: Nicht Gejammer oder resignative Ergebenheit in ein vermeintliches Schicksal, nicht Polemik und gegenseitige Zerfleischung helfen weiter. Der Ausweg ist auch nicht eine Frage der Zahlen. Auch Einzelne können eine Krise zum Besseren wenden, wenn sie von Glaube, Hoffnung und Liebe erfüllt im Einsatz für die Sache Gottes und seines Reiches sich in die Schanze schlagen.
„Die ganze Kirchengeschichte ist eine Reformgeschichte. Aber strukturelle Reformen allein nützen wenig. Die gegenwärtige Krise ist zu tief, als dass wir sie aus eigener Kraft stemmen könnten.“
(Walter Kardinal Kasper)
Selbstverständlich sind Reformen nötig. Die Kirche bedarf immer der Reform und der Erneuerung (LG 8; UR 4; 6). Die ganze Kirchengeschichte ist eine Reformgeschichte. Aber strukturelle Reformen allein nützen wenig. Die gegenwärtige Krise ist zu tief, als dass wir sie aus eigener Kraft stemmen könnten. Auch die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie nicht aus sich selbst hat (W. Böckenförde). Das gilt noch mehr von der Kirche. Sie ist die Gemeinschaft des Glaubenden. Den Glauben kann man nicht machen und nicht organisieren. Er ist ein Geschenk der Gnade. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Allein in Christus, der in der Auferstehung die bösen Mächte besiegt hat, können Christen in jeder Situation Menschen der Hoffnung sein, die alles auf eine Karte setzen und dem Evangelium zutrauen, dass es Heil und Rettung ist.
Wenn ich nun höre: Wir können das Evangelium erst wieder verkünden, wenn wir uns durch Reformen glaubwürdig gemacht haben, so ist das Häresie pur, Häresie eines ekklesiologischen Pelagianismus‘, einer Werksgerechtigkeit, die meint Kirche „machen“ zu können. Nein, darin hatte Luther recht: Die Kirche ist creatura verbi. Die Kirche entsteht aus der Verkündigung des Evangeliums. Nicht wir sündige Menschen machen das Evangelium glaubwürdig; das Evangelium ist als Gottes Wort Gottes Kraft (Röm 1,16), es rechtfertigt uns und es hat die Kraft, zu „überzeugen.“
Wir brauchen nicht Macher, wir brauchen auch nicht immer neue Papiere. Wir sind in der Kirche ja geradezu eine Papierfabrik geworden. Wir brauchen Zeugen des Evangeliums, denen man abnimmt, dass sie glauben, was sie sagen und die das, was sie glauben, mit Gottes Gnade auch leben. Es waren die Heiligen, welche die Kirche nach der Krise der Reformation wieder in Schwung brachten: Vor Petrus Canisius Ignatius von Loyola, dann Karl Borromäus, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Franz von Sales u.a. Wir brauchen einen neuen Petrus Canisius als dritten Apostel Deutschlands. Fragen wir darum ihn, was er uns heute raten würde.
III. Das Evangelium Quelle der Erneuerung
Ich beschränke mich auf drei Fragen: Was sollen wir tun? Wie sollen wir es tun? Und wer soll es tun? Zur ersten Frage: Wir brauchen einen klaren Kompass. Ein Kompass ist kein Baedeker, der alle künftigen Wegstation im Voraus beschreibt. Ein Kompass gibt nur die Richtung an, und die Richtung muss stimmen. In der Krise des 16. Jahrhunderts hat das Trienter Konzil die Richtung klar definiert. Gleich auf der ersten Sitzung, die sich mit den dogmatischen Fragen befasst hat: „Das Evangelium ist Quelle aller Heilswahrheit und Disziplin“ (DH 1501). Das Evangelium ist kein Buch und kein Kodex von Glaubenssätzen und moralischen Normen, vielmehr eine lebendige, eine frisch sprudelnde Quelle, nicht laues, altes, abgestandenes, vielmehr sprudelndes frisches Wasser – frisches Wasser, ohne das kein Leben möglich ist.
Wahrscheinlich hätte es Petrus Canisius nicht ganz so ausgedrückt. Aber der Sache nach geht es in den Exerzitien des Ignatius von Loyola um nichts anderes als um die Einübung in die Nachfolge Jesu und die radikale Lebensentscheidung, für die größere Ehre und das Reich Gottes einzutreten.
Seit dem Konzil sind „Evangelium“ und „Evangelisieren“ Grundworte des Glaubens und des kirchlichen Lebens geworden. Papst Paul VI. hat in Evangelii nuntiandi (1975) das Grundanliegen des II. Vatikanums zusammengefasst: „Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren“ (Nr.14) Damit war die Grundmelodie der Nachkonzilszeit angestimmt, in die alle folgenden Päpste eingestimmt haben. Papst Franziskus hat in seiner Programmschrift Evangelii gaudium (2013) diesen Cantus firmus aufgenommen und ihn in seinem Brief an das pilgernde Gottesvolk in Deutschland der deutsche Kirche ans Herz gelegt.
„Es war wirklich ein starkes Stück, dass man in Deutschland den Brief des Papstes, beiseitegelegt und einen eigenen Weg eingeschlagen hat.“
(Walter Kardinal Kasper)
Es war wirklich ein starkes Stück, dass man in Deutschland den Brief des Papstes, beiseitegelegt und einen eigenen Weg eingeschlagen hat. Was gibt es denn Besseres als das Evangelium? Im Alten Testament ist es die Botschaft von der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft (Jes 52,7; 62,1), bei Jesus die Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes, die Botschaft von der heilenden Nähe und der Menschenfreundlichkeit Gottes (Mk 1,14 f; Lk 4,18 f), bei Paulus die Botschaft von Tod und Auferweckung Christi als Sieg über den Tod und die bösen Mächte in der Welt (1 Kor 15,3-5), also eine Botschaft der christlichen Freiheit, der Hoffnung und der Freude. Es ist die Frohe Botschaft von der Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe![13]
Als die Jünger beim Abschied Jesu Sorge hatten, wie es weitergehen solle, hat Jesus keine Ämter eingesetzt und gemeint, damit sei für die Kirche bis zum Weltende mehr als genug gesorgt; er hat seinen Jüngern auch kein Buch übergeben, das sie lesen sollen, um aus ihm alles Weitere zu entnehmen. Er hat den anderen Parakleten den Hl. Geist versprochen, der sie an all das erinnern und in alle Wahrheit einführen soll (Joh 14,16. 26; 15,26; 16,13 f). Das Evangelium ist die im Hl. Geist bleibende Gegenwart des Wortes Gottes in den Herzen der Gläubigen. Das Konzil sagt darum: Im Hl. Geist geht der Dialog Gottes mit der Kirche weiter, damit das Evangelium in der Kirche und durch die Kirche in aller Welt erschallen kann (DV 8). Darum mahnt das letzte Buch der Bibel mehrfach zu hören, was der Geist den Gemeinden sagt (Offb 2,7 u.a.).[14]
Es geht im Evangelium nicht primär um die Kirche, ihre Ämter und Strukturen. Sie sind nicht das Heil, sie sind nur Heilsmittel. Es geht um die Frohe Botschaft von Gott, von Jesus Christus, seinem Tod und seiner Auferstehung, vom Wirken des Hl. Geistes und der Hoffnung auf das ewige Leben. Das sind keine rein theoretischen Fragen. Sie sind Ruf zur Umkehr, zu einer grundsätzlichen Kehrtwende und Kurskorrektur und zu einem neuen Denken (metanoia) (Mk 1,15; Röm 12, 2). Es geht um das Hauptgebot der Liebe (Mth 22,37-40 par.), das in der Bergpredigt konkret wird als Zuwendung zu den Armen, Kleinen, den Trauernden und den Verfolgten (Mth 5,3-11; Lk 6,20-26). In ihnen begegnen wir Jesus Christus heute (Mth 25). Sie sind Zeichen der Zeit und legen uns das Evangelium konkret aus. Mit dieser Botschaft können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein (Mth 5,13-16).
„Wir müssen uns auf die Hierarchie der Wahrheiten besinnen, uns auf das Wesentliche konzentrieren statt uns in rein innerkirchlichen Problemen zu verkrallen und unsere Zeit in Lagerkriegen zu vergeuden.“
(Walter Kardinal Kasper)
Wir müssen uns auf die Hierarchie der Wahrheiten besinnen (UR 11), uns auf das Wesentliche konzentrieren statt uns in rein innerkirchlichen Problemen zu verkrallen und unsere Zeit in Lagerkriegen zu vergeuden. Das sind nicht die Probleme der Menschen. Die Menschen brauchen und erwarten etwas anderes. Sie brauchen Trost, Orientierung, Glaube, Hoffnung und Liebe, Freude. „Spalancate le porte“, „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore auf für Christus!“ hat uns Johannes Paul II. am 22. Oktober 1978 bei seiner Antrittspredigt auf dem Petersplatz zugerufen. Darum ging es Petrus Canisius und darum geht es auch heute.
IV. Evangelium für eine künftige Generation
Nun zum zweiten Punkt. Wie hat Petrus Canisius das gemacht? Die frühen Jesuiten folgten keinem vorgefassten Plan. Sie waren anders als wir Deutschen, die, bevor wir anfangen, endlose Positionspapiere verfassen, um im Voraus alles bis ins Einzelne zu regeln. Anders die frühen Jesuiten. Sie engagierten sich auf verschiedensten Missionsfeldern, bis eines Tages die Stadtväter von Messina auf Sizilien auf sie zukamen und sie baten, ihre städtische Schule zu übernehmen. Das war für sie etwas Neues, darauf waren sie in keiner Weise vorbereitet. Doch als Ignatius sich dafür entschieden hatte, war die Sache für Petrus Canisius klar. Er machte den Job und hatte Erfolg. Bald war Bayern mit Studienhäusern der Jesuiten geradezu übersät: Kaufbeuren, Mindelheim, Landshut, Ingolstadt, Eichstätt, Regensburg, München, Straubing, Passau u.a.
Canisius war der Überzeugung: Wer in der Welt wirken will, der muss die Welt kennen und sie verstehen. Darum wollte er begabte junge Menschen heranbilden, ihnen im Licht des Glaubens das Wissen seiner Zeit vermitteln. Damit lag er ganz in der kirchlichen Tradition. Die mittelalterlichen Mönche waren mit ihren Klosterschulen Transmissionsriemen, welche die antike humanistische Bildung dem Mittelalter übermittelten und damit die Grundlage für die Kultur Europas schufen.
In unseren beiden Diözesen Augsburg und Rottenburg-Stuttgart haben wir Schulen in kirchlicher Trägerschaft, die nach dem Marchtaler Plan arbeiten. Ihnen geht es nicht nur um Ausbildung, sondern um gesamtmenschliche Bildung, um Wissen, das mit sittlich-religiöser Gesamtbildung und mit sozialer Praxis verbunden ist. Damit können wir dem heute weit verbreiteten Narrativ einer rein säkularistischen, weithin ökonomischen und naturwissenschaftlichen Weltsicht eine ganzheitliche christliche und katholische Vision entgegenstellen. Letztlich ist Bildung ein theologischer Begriff, dem es darum geht, das Bild Gottes, nach dem wir geschaffen sind, auszubilden.